Interkulturelle Kompetenz wird in der Sicherheitsbranche gerne als sogenanntes „weiches Thema“ belächelt. Weiches Thema im Sinne von: nicht wichtig, ohne Priorität. In der Folge wird das Thema bei der Vorbereitung von Reisenden gerne vernachlässigt. Ein Fehler.
Denn interkulturelle Kompetenz ist im Gegenteil die entscheidende Fertigkeit, welche die Reisesicherheit signifikant erhöhen kann. Das gilt beruflich wie privat, für Geschäftsreisende und Expats ebenso wie für Touristen.
Dabei gilt der Grundsatz: Je mehr Risiken in einem Zielland existieren, desto wichtiger ist interkulturelle Kompetenz für die persönliche Sicherheit.
Für mich bedeutet interkulturelle Kompetenz, in der Lage zu sein, sich mit Angehörigen anderer Kulturen zu verständigen und erfolgreich zu kommunizieren. Dies setzt voraus, die Regeln und Werte anderer Kulturen nicht nur zu kennen, sondern auch zu verstehen, wie andere Menschen „ticken“.
Bei Auslandsreisen können – abhängig vom Reiseziel – eine Vielzahl von Risiken auftreten. Dazu zählen zum Beispiel Naturgefahren wie Erdbeben und Krankheiten wie Malaria oder Dengue-Fieber.
Die Risiken, mit denen Reisende am häufigsten konfrontiert sind, werden jedoch von andere Menschen verursacht. Dazu zählen vor allem Kriminalität in den unterschiedlichsten Ausprägungen, Terrorismus, Unruhen und sexuelle Belästigung.
Es sind also in erster Linie andere Menschen, die für die Einschränkung bzw. Gefährdung der eigenen Sicherheit verantwortlich sind. Interkulturelle Kompetenz hilft dabei, frühzeitig zu erkennen, ob Menschen mir feindlich gesinnt sind und mir Böses wollen.
Nur dann kann ich frühzeitig reagieren und Maßnahmen treffen, um der Bedrohung zu entgehen oder sie abzuwehren. Interkulturelle Kompetenz trägt somit entschieden dazu bei, die Risiken im Ausland zu reduzieren.
Um sich interkulturell kompetent verhalten zu können, muss man verstehen, wer die Menschen im Zielland sind – und wie diese ticken. Nur wer die lokalen Spielregeln vor Ort kennt, kann danach spielen. Diese „Spielregeln“ konstituieren sich aus den jeweiligen Sitten und Gebräuche, aus Werten, Normen und Tabus.
Der kritischste Punkt einer Reise ist die Ankunft in einem bis dahin unbekannten Land sowie die Periode der ersten Eingewöhnung.
Wer in Frankfurt am Main ins Flugzeug steigt und rund zehn Stunden später in Karachi in Pakistan landet, der ist müde und erschöpft von der Reise – und betritt mit Verlassen des Flughafens zudem eine völlig neue Welt.
Neue Gerüche und Klänge strömen auf sie oder ihn ein, dazu die feuchtheiße Luft und dann die Menschen: viele, sehr viele Menschen. Sehr nah. Sie sehen anders aus, sie reden schnell, und alle scheinen sie etwas anzubieten oder etwas zu wollen.
Wer ein solches Gewusel vorher noch nicht erlebt hat, der ist gänzlich überfordert von der Vielzahl der Eindrücke. Nicht selten setzt in einer solchen Situation ein Kulturschock ein; die Dosis an Fremdem und Neuem ist zu hoch, die eigene Aufmerksamkeit überfordert – und schaltet in einen Alarmmodus. In der Folge scheint mit einem Mal jeder Mensch eine potentielle Bedrohung zu sein.
In dieser Phase der ersten Anpassung an die neue Umgebung sind wir verwundbar, da wir Menschen und ihre Motivation schwerer einschätzen können als in unserer gewohnten Umgebung.
Interkulturelle Kompetenz ist Übungssache und lässt sich nur im Zielland erwerben. Die persönliche Anwesenheit und der regelmäßige Umgang mit Menschen der jeweiligen Kultur ist notwendig. Ohne Offenheit, Neugierde und Lernbereitschaft geht es nicht. Eine theoretische Vorbereitung durch Trainings oder Bücher hilft, reicht aber nicht. Nichts ersetzt die persönliche Anwesenheit vor Ort.
Die Aufgabe im Zielland besteht nun darin, die eigene Intuition neu zu kalibrieren. Denn die funktioniert zwar (hoffentlich) zuhause, aber nicht in der Fremde. Was in Flensburg gilt, hat bereits im Bayerischen Wald nur noch beschränkte Gültigkeit. Und in Karachi bieten die bisherigen Erfahrungen gar keinen Halt mehr.
Es gilt also, die eigene Intuition auf die neue Umwelt und die neuen Verhältnisse einzustellen, und das möglichst schnell. Aber diese Kalibrierung braucht Zeit. Interkulturelle Kompetenz erwerbe ich nicht an einem Tag. Bis dahin müssen wir uns mit anderen Mitteln über Wasser halten.
Hilfreich ist hierbei das in der Praxis bewährte Konzept von Standards und Anomalien, das ich bereits in meinem Blog über Low Profile kurz beschrieben habe. Das Konzept besagt, das es in jedem Land, jeder Stadt, für jede Person so etwas wie einen Standard, einen Konsens darüber gibt, was als normal gilt.
Dieser Standard ist jenes menschliche Verhalten, das in einer bestimmten Umgebung zu einer bestimmten Zeit als alltäglich und gebräuchlich gilt. In jeder Umgebung, in der man sich bewegt, sollte man den geltenden Standard ausmachen und ihn für sich definieren. Denn auf dieser Grundlage lassen sich Abweichungen von der Norm erkennen.
Das bewusste und systematische Einsetzen dieses Konzepts schult die eigene Wahrnehmung. Es hilft, die eigenen Erfahrungen besser zu erfassen und zu verstehen.
Fakt ist: Mit jedem Tag vor Ort verbessert sich die eigene interkulturelle Kompetenz – ein wenig persönliche Offenheit und Neugierde vorausgesetzt. Nach einiger Zeit hat sich die Intuition neu kalibriert, wir handeln dann aus dem Bauch heraus „richtig“ und können erfolgreich mit Menschen kommunizieren und ihre Intentionen schneller und frühzeitiger verstehen. Rasch erkennt man, ob das Verhalten von Mitmenschen als „normal“ einzustufen ist oder von diesen Menschen eine potenzielle Bedrohung ausgeht.
Durch den Aufbau interkultureller Kompetenz erhöhen wir also gleichzeitig unsere Resilienz, unsere Widerstandsfähigkeit gegenüber Bedrohungen und Krisen.
Interkulturelle Kompetenz ist umso wichtiger, je mehr Kontakt mit der lokalen Bevölkerung stattfindet und je fragiler die Verhältnisse im Land sind.
Gerade Menschen, die in fragilen Staaten und in volatile Verhältnissen leben, haben ein sehr feines Gespür für Schwingungen. Sie müssen jederzeit und möglichst frühzeitig wissen, ob von anderen Menschen Gefahr droht, wie diese einzuschätzen sind. Dies kann überlebenswichtig sein.
Faustregel: Je ländlicher die Umgebung im Zielland ist, desto größer sind die interkulturellen Unterschiede. In Großstädten und dort vor allem in geschäftlichen Kontexten verschwimmen diese Grenzen hingegen häufig. Hier ist die Bevölkerung heterogener, Menschen aus zahlreichen Ländern, Ethnien, Stämmen, Gruppen und sozialen Schichten leben hier zusammen.
Besonders wichtig ist interkulturelle Kompetenz für Expats, die für mehrere Monate oder gar Jahre in ihrem Zielland leben, sowie für NGO's und Organisationen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Ebenso für Journalisten, Wissenschaftler wie Archäologen oder Ethnologen und Reisende, die abseits der üblichen Touristenpfade und vor allem im ländlichen Raum unterwegs sind.
Sicherheit beginnt mit dem Verstehen des anderen.
Weniger wichtig ist interkulturelle Kompetenz für Geschäftsreisende mit einem beschränkten Bewegungsradius und einer kurzen Aufenthaltsdauer: Wer nur drei Tage in der Hauptstadt weilt und außer Flughafen, Hotel und Konferenzraum nichts sieht, der muss in erster Linie mit seinen Geschäftspartnern zurechtkommen.
Interkulturelle Kenntnisse werden erst dann sicherheitsrelevant, wenn es zu Zwischenfällen kommt und die Geschäftsreise nicht so verläuft wie geplant: Wenn zum Beispiel das Taxi eine Panne hat und der Reisende plötzlich in einem unbekannten Stadtviertel gestrandet ist.
Auch für Ingenieure und Projektmitarbeiter, die auf sogenannten Greenfield-Anlagen mitten im Nirgendwo, fernab von Städten und Infrastruktur arbeiten, ist interkulturelle Kompetenz oft von nachrangiger Bedeutung. Selbst wenn in ihren Projekten Einheimische mitarbeiten, so obliegt die Aufsicht und Organisation meist international ausgebildeten Kräften.
Wer die Baustelle nie verlässt, für den ist es nicht so wichtig zu wissen, wie die Einheimischen ticken. Oder: Wo niemand ist, muss man auch niemanden verstehen – so lange es nicht zu Sicherheitsvorfällen kommt, die den Kontakt mit der lokalen Bevölkerung unausweichlich machen. In diesem Punkt ähneln sich Baustellen und Pauschaltouristen – beide verlassen nur selten das ihnen zugewiesene Areal.
Interkulturelle Kompetenz ist die zentrale Fähigkeit, die dazu beiträgt, die eigene Sicherheit auf Reisen signifikant zu erhöhen. Nur wer versteht, wie seine Mitmenschen ticken und was sie antreibt, kann ihr Verhalten einschätzen und erkennen, ob sich eine Bedrohung abzeichnet oder nicht – um dann entsprechend frühzeitig handeln zu können.
Gute Reise!
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