Situative Aufmerksamkeit und der Cooper Color Code sind wohl die wichtigsten und wertvollsten Werkzeuge, die uns zur Verfügung stehen, um unsere persönliche Sicherheit effektiv zu erhöhen. Hinter dem etwas sperrigen Begriff der situativen Aufmerksamkeit (engl. situational awareness) verbirgt sich ein einfaches und in der Praxis seit Jahrzehnten bewährtes Konzept.
Im Kern bedeutet Awareness oder situative Aufmerksamkeit nichts anderes als die eigene Umgebung bewusst wahrzunehmen. Ziel ist es, diese Umgebung zu verstehen, sie lesen zu können. Wer Awareness praktiziert, weiß zu jedem Zeitpunkt, was in der eigenen Umgebung vorgeht.
Awareness ist damit so etwas wie unser Gefahrenradar. Es ist unser Frühwarnsystem, das uns in die Lage versetzt, mögliche Bedrohungen - wie zum Beispiel Angriffe durch Kriminelle, Terroristen, Stalker oder Sexualstraftäter - frühzeitig zu erkennen.
Um die eigene situative Aufmerksamkeit gezielt steuern zu lernen und damit die eigene Handlungsfähigkeit auch in Gefährdungssituationen zu erhöhen, empfiehlt sich ein seit Jahrzehnten in der Praxis bewährtes System: der Cooper Color Code.
Jeff Cooper war ein US-amerikanischer Schießausbilder, der sowohl im Zweiten Weltkrieg wie auch im Korea-Krieg gedient hatte. Cooper hatte seinen Farbcode - die Cooper Colors - ursprünglich entwickelt, um die Gefechtsbereitschaft von Soldaten zu erhöhen.
Das System lässt sich jedoch problemlos in den zivilen Bereich übertragen. Hier hilft es, die Handlungsfähigkeit von Menschen in Gefährdungssituationen zu erhöhen.
Coopers System basiert auf einem Farbcode mit den Farben Weiß, Gelb, Orange und Rot. Jede Farbe steht für einen bestimmten Grad an Awareness. Wir alle bewegen uns grundsätzlich in einer dieser vier Stufen situativer Aufmerksamkeit. Weiß steht dabei für den geringsten Grad an situativer Aufmerksamkeit, Rot für den höchsten.
In Stufe Weiß sind wir entspannt und unaufmerksam und schenken unserer Umgebung keine oder nur wenig Beachtung. In diesem Zustand der situativen Aufmerksamkeit sind wir nicht in der Lage, potenzielle Gefahren wahrzunehmen, geschweige denn, angemessen darauf zu reagieren.
Viele Menschen befinden sich die meiste Zeit des Tages und ihres Lebens in dieser Stufe der Aufmerksamkeit, sei es, dass sie zu Hause auf dem Sofa oder in der U-Bahn sitzen, mit Dutzenden anderer Menschen um sie herum. Weiß ist die Farbe der Routine, der Betriebsblindheit und des Alltagstrotts, die allzu oft mit einer gewissen Ignoranz einhergeht.
Wann immer Sie in der Öffentlichkeit auf Ihrem Smartphone herumspielen, befinden Sie sich in Coopers Farbcode in Stufe Weiß. Wenn Menschen nach einem Überfall verdattert in der Gegend herumstehen und sagen "Es ging alles so schnell, ich habe den Täter überhaupt nicht kommen sehen", dann waren diese Menschen vor dem Überfall in Stufe Weiß.
Weiß ist auf der anderen Seite auch ein Zustand, der notwendig ist zur Erhaltung unserer physischen und psychischen Gesundheit. Aufmerksamkeit ist für uns alle eine limitierte Ressource. Daher muss jeder Mensch im Verlauf eines Tages für eine längere Zeit in Weiß abtauchen, um sich regenerieren zu können.
Weiß ist der Zustand der Erholung, des Loslassens, des Schlafens. Hier sammeln wir Kräfte und laden unsere Batterien auf. Das geht zu Hause oder in einem sicheren, geschützten Raum; überall dort, wo fremde Menschen keinen Zutritt haben und Ihnen niemand etwas Böses will. Die Öffentlichkeit zählt ausdrücklich nicht zu diesen geschützten Räumen.
Auf Weiß folgt die nächsthöhere Stufe Gelb. In Stufe Gelb nehmen Sie Ihre Umgebung aufmerksam und bewusst wahr. Wie in Stufe Weiß sind Sie entspannt. Der entscheidende Unterschied zwischen Weiß und Gelb besteht darin, dass Sie bei Verlassen der eigenen vier Wände bewusst Ihren »Gefahrenradar« eingeschaltet haben.
Sie wissen genau, wo Sie sind und welche Menschen sich um Sie herum befinden. Ich nenne das »die Umgebung inventarisieren«. Sie sind dabei entspannt, aber wachsam. Wann immer Sie sich in der Öffentlichkeit bewegen, sollten Sie in Stufe Gelb sein.
Das hört sich selbstverständlicher an, als es ist. Viele Menschen sind so in ihrem Trott gefangen, dass sie die eigene Umgebung nur selten wirklich bewusst wahrnehmen.
Ich stelle dies immer wieder in meinen Sicherheitstrainings fest. Für manche Teilnehmer ist es so, als würden ihnen die Augen geöffnet und sie könnten plötzlich sehen.
Auf Gelb folgt die nächsthöhere Stufe Orange. In Stufe Orange wechseln Sie, wenn Sie eine potenzielle Bedrohung in Ihrer Umgebung identifiziert haben.
Vielleicht sagt Ihnen Ihre Intuition, dass etwas nicht stimmt. Vielleicht ist es eine Betrunkene, die lautstark die Menschen um sich herum beschimpft. Vielleicht ist es eine Gruppe Jugendlicher, bei denen Ihr Bauchgefühl anschlägt. Ihre entspannte Aufmerksamkeit (Stufe Gelb) hat sich jetzt erhöht und auf die mögliche Gefahrenquelle fokussiert.
In Stufe Orange nimmt Ihre körperliche Anspannung zu und Ihr Herzschlag erhöht sich. Vielleicht bekommen Sie feuchte Hände oder einen trockenen Mund. Das sind typische Stress-Reaktionen und Zeichen dafür, dass der Körper sich auf Aktion vorbereitet.
In Orange fokussieren Sie Ihre Aufmerksamkeit so lange auf die mögliche Bedrohung, bis sich die Situation entweder entschärft (die Gruppe Jugendlicher verschwindet) oder sich die potenzielle Gefahrenquelle als harmlos herausstellt (die Betrunkene schläft ein).
Dann schalten Sie Ihre Awareness wieder auf Gelb herunter. Oder aber Sie realisieren, dass sich tatsächlich eine Bedrohung manifestiert (die Betrunkene wankt auf Sie zu und beschimpft Sie lautstark) und Sie handeln müssen (Flucht oder Gegenwehr).
Die vierte und letzte Stufe in Jeff Coopers Farbcode ist die Stufe Rot. Die Farbe Rot bedeutet Ernstfall. In dieser Stufe haben wir eine konkrete gegen uns gerichtete Bedrohung identifiziert. Rot heißt: Aktion erforderlich. Jetzt.
Ihr Körper ist bereit für eine der beiden archaischen Reaktionen bei Gefahr: fliehen oder kämpfen. Ihr Herzschlag hat sich nochmals erhöht, Adrenalin wird ausgeschüttet, Ihre Sinne sind maximal geschärft. Dieser Zustand währt so lange, bis keine Gefährdung mehr existiert und Sie sich an einem sicheren Ort befinden. Dann schaltet der Körper nach einer Weile wieder herunter, bis er nach und nach Stufe Weiß, den Zustand der Erholung, erreicht hat.
Das geschieht bei kurzen Bedrohungsphasen bei vielen Menschen automatisch, sofern das persönliche Umfeld diesen Prozess der Entspannung erlaubt. Sind Menschen jedoch über lange Zeit einem hohen Stress ausgesetzt, ist es häufig notwendig, Methoden zur gezielten Entspannung und Stressreduktion zu nutzen. Dazu zählen unter anderem intensiver Sport, Meditation, Atemübungen und autogenes Training.
Der Farbcode hilft, die eigene Wahrnehmung gezielt zu steuern. Während des Tages können wir mehrfach zwischen den vier Stufen wechseln. Die meiste Zeit verbringen wir in den Stufen Weiß und Gelb, deutlich seltener in Orange und nur in Ausnahmefällen sind wir in Stufe Rot.
Die meisten Menschen befinden sich die überwiegende Zeit des Tages mental in Stufe Weiß, auch außerhalb der eigenen vier Wände oder anderer geschützter Räume. Das bedeutet jedoch, dass sie kein Auge für ihre jeweilige Umgebung haben.
Dieses Verhalten hat zwei gravierende Nachteile für die eigene Sicherheit: Erstens sind wir in Stufe Weiß nicht in der Lage, potenzielle Bedrohungen frühzeitig zu identifizieren. Zweitens sind wir ohne situative Aufmerksamkeit im Bedrohungsfall unfähig, adäquat zu reagieren, uns also so zu verhalten, dass wir die Situation möglichst unbeschadet überstehen.
Denn in einer Gefahrensituation müssen wir aus diesem mentalen Zustand erst aufwachen. Wir können nicht direkt von Weiß zu Rot wechseln, sondern brauchen dafür ein paar Sekunden der Orientierung und Anpassung an die Situation. Und das dauert in Bedrohungssituationen erfahrungsgemäß meist zu lange.
Dieses Unvermögen, eine Bedrohungssituation ohne mentale Vorbereitung schnell und effektiv zu entschärfen, liegt also im archaischen Verhalten unseres Körpers in Gefahrensituationen begründet.
Gefahr bedeutet Stress. Jede als gefährlich wahrgenommene Situation führt beim Menschen zu einer Stressreaktion. Und diese Reaktionen sind heute noch die gleichen wie in der Steinzeit. Sendet das Stammhirn ein Signal für Gefahr, übernimmt unser vegetatives Nervensystem die Kontrolle und entscheidet innerhalb von Millisekunden über die sinnvollste Reaktion: kämpfen, fliehen oder erstarren (engl. fight – flight – freeze).
Ein solches Erstarren im Angesicht einer Gefahr sollten wir um jeden Preis vermeiden. Der Nutzen von Coopers Farbcode besteht also darin, dass wir damit den Grad unserer situativen Aufmerksamkeit überprüfen und gezielt steuern können. Richtig eingesetzt kann der Farbcode uns helfen, die archaischen Instinkte unseres Körpers in Schach zu halten.
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